Deutschland redet sich arm. Wirklich?       Mai 2008

 

Kommentar zu:     NZZ – Deutschland redet sich arm


Es ist verwunderlich, mit welcher Nonchalance der Autor des Artikels diese Menschen beiseite lässt, die eigentlichen Verlierer der neuen Entwicklung sind. Es führt meines Erachtens nicht weiter, wenn man Armut ausschließlich durch die Zahl der Obdachlosen oder Sozialhilfeempfänger definiert. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Auch mir liegt es am Herzen, dass diese Gruppen weiter kleiner werden oder gar verschwinden.

Was mich besonders betroffen macht, ist die Tatsache, und das geht aus dem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung deutlich hervor, dass es eine Gruppe der Menschen gibt, die unaufhörlich wächst. Es sind Menschen, die zwar im Beruf stehen, aber damit konfrontiert werden, dass die Einkommen seit Jahren stagnieren, die Lebenshaltungskosten aber unaufhaltsam steigen. Praktisch bedeutet es, dass die Differenz, die sich aus den festen Kosten und dem Nettoeinkommen ergibt, sich einer besonderen Grenze nähert.


Was ist das für eine Grenze? Objektiv kann man nicht von Armutsgrenze reden, aber schauen wir uns die Sache genauer an: Welche Auswirkungen hat die Tatsache, dass das Geld - um die festen Kosten bereinigt - das einer Familie zur Verfügung steht, nominal und real immer weniger wird. Das Geld, für das die Menschen am sozialen Leben teilnehmen wollen. Da sind Zeitungsabonnements unmöglich, da ist Kinobesuch zu teuer, Theaterliebe, Liebe zur Literatur wird eigentlich diesen Menschen nicht unterstellt, da die Kultiviertheit im westlichen Verständnis mit Einkommen und Vermögen zusammenhängt. Es handelt sich um die Grenze zur tatsächlichen Armut, wenn es um die Lebensführung und den Lebensstil geht.


Gehälter und Renten steigen kaum, wenn ja, dann "sozial gerecht", prozentual vom Einkommen. Es gäbe doch genug mathematische Formeln, die man zur Berechnung der Steigerung von Einkommen zugrunde legen könnte! Warum können die Einkommen und Renten nicht antiproportional zum aktuellen Einkommen steigen? Das würde in absoluten Zahlen keine höheren Kosten für die Arbeitgeber und den Staat bedeuten! Mich würde es sehr interessieren, wie das Problem gesellschafts- oder sozialpsychologisch zu interpretieren ist.


Es ist sehr lobenswert, wenn sich der Staat und damit auch die Gesellschaft um die Armen, Kranken, Behinderten, Unfähigen sorgt und kümmert. Es bleibt aber noch eine in heutiger Zeit ständig wachsende Gruppe der „ungeschützten Arbeitenden und Arbeitslosen“, das Prekariat. Das Phänomen ist neu, daher auch der neue soziologische Begriff, ein Neologismus, vom Adjektiv „prekär“ abgeleitet. Im 21. Jahrhundert redet man nicht mehr vom Proletariat. Ein Wort genug kompromittiert von dem 70 Jahre herrschendem Sozialismus, als dieses Wort eine Kategorie aus der Ideologie und aus der Propaganda war. Man redet auch nicht mehr von Pauperisierung. Obschon die Kollektive, die man unter den Begriffen Prekariat und die Pauperisierten versteht, grundsätzlich vergleichbar sind. Es wäre wichtig, die gemeinsamen und die unterscheidenden Eigenschaften der Phänomene festzuhalten. Im Kapitalismus des 19. Jahrhundert war es die Arbeiterschaft, die aus der (landlosen oder arbeitslosen) Landbevölkerung entstanden war.

In einigen europäischen Ländern war es zudem so, dass durch politische und kriegerische Auseinandersetzungen sogar der verarmte Adel die ganze Hoffnung und das letzte Geld in die Industrialisierung gesteckt hatte, mit meistens tragischen Folgen: Diese Menschen lebten in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, hatten keinerlei soziale Absicherung. Sie waren bitter arm, von der sozialen Leiter rasend schnell nach unten gestürzt, sie waren pauperisiert.


Die neue Entwicklung ist ganz und gar anders. Zum Kollektiv des Prekariats zählen Teile der unteren Mittelschicht, in vielen Fällen handelt es sich um Akademiker, die arbeitslos geworden sind oder schlecht bezahlt werden, deren Hochschulabschlüsse oft nicht mehr gefragt werden. Diese Menschen müssen mit geringem Einkommen zurechtkommen, was ja auf Dauer kaum gelingen kann. Vielmals bringen sie keine Absicherung aus ihrer Ursprungsfamilie, können nicht aus einem Vermögen schöpfen, sind sonst in keinen Seilschaften verankert und haben somit noch weniger Chancen, erneut in ein Arbeitsverhältnis zu kommen, so dass sie aus dem Einkommen oder Zusatzeinkommen ihr Leben würdig bestreiten könnten. Frauen, die sich mit Seilschaften ganz schwer tun, besonders aber allein stehende Frauen, mit Kindern oder ohne, haben da noch größere Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass sie, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis stehen, immer noch geringer vergütet werden als Männer. Wenn in diesen Familien Kinder leben, verschärft sich die Mangelsituation besonders. Erwachsene lassen sich ungern etwas anmerken, können auf vieles verzichten oder Mängel überspielen. Arme Kinder dagegen werden von den Mitschülern sehr schnell als solche erkannt; sozial rutschen sie nach unten. Welche verheerenden Folgen es hat, brauche ich an dieser Stelle nicht auszuführen.


Charakteristisch für dieses Phänomen der neuen Armut ist, dass diese Menschen - die Erwachsenen - ganz und gar nicht von der Umgebung und von der Gesellschaft als solche wahrgenommen werden. Hier und da erscheint ein Artikel, ein sensibler Politiker startet eine Initiative, ein Bericht der Bundesregierung erscheint. Deshalb ist es so enttäuschend, dass in einer Zeitung, die nicht nur vorzüglich informiert, wie die Neue Zürcher Zeitung, die auch meistens hoch qualifizierte Kommentare publiziert, in diesem Fall ein menschenverachtendes Schreibstück veröffentlich worden ist.


Das frühere Proletariat oder gar das Lumpenproletariat das waren die „Unberührbaren“. Heute ist das Prekariat „unsichtbar“. Ein Sinnbild des Fortschritts.


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