Das Nein zum Lissabonner Vertrag           Juni 2008

Es ist etwas anderes als ihre partikularen Interessen, die die Menschen gegen den Lissabonner Vertrag stimmen lassen. Zwar hat nur in Irland das Volk abgestimmt, aber das seit 50 Jahren anhaltende Desinteresse und eine   ablehnende Haltung aller Europäer gegenüber der EU, den Europa-Wahlen, der Europäischen Verfassung, oder gegenüber verschiedenen Verträgen, die das Funktionieren der EU sichern, verbessern, zukunftsfähig machen sollten, ist bezeichnend für die Haltung der meisten europäischen Bürger, der politischen Klasse, und zum Teil der Medien für das, was die klugen Köpfe der Nachkriegszeit ins Leben gerufen hatten. Das irische Volk ist nur stellvertretend für das ganze Europa.


Ist es überhaupt möglich, dass ein Staatsgebilde wie die Europäische Union es ist, ohne ein aktives Zutun der Bürger eine Weltbedeutung erlangen kann? Ich meine ja.


Über die Rolle des Individuums oder der Eliten in der Geschichte zu sprechen, scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein. Ob es der historische Materialismus, ob es das demokratische Selbstverständnis ist – das Volk soll es sein, das die Geschehnisse, die Geschichte formt.


Sicher haben die Volksmassen die tragende Kraft bei allen revolutionären Bewegungen, wenn auch diese ohne Anführer eine ungeformte Masse und chaotische Kraft darstellen würden. Erst Dank führender Kräfte und tragender Ideen, manchmal Ideologien, kann diese Masse Form annehmen und mehr oder weniger planvoll die Geschicke der Welt verändern.


Aber in Europa geht es ja gar nicht (mehr) um grundlegende Umwälzungen. Seit der Wende von 1989 und der Osterweiterung sind in naher und mittlerer Zukunft weitreichende Veränderungen nicht vorgesehen und nicht nötig. Somit ist in Sachen, die weitreichende Bedeutung haben, nicht notwendig ein oder mehrere Völker zu befragen. Das, was Europa zukunftsfähig machen wird, das kann und wird in unermüdlicher Arbeit der mit hohen Ämtern in der Union betrauten Menschen getan werden. Und in unermüdlicher Kleinarbeit des bürokratischen Apparats der Union und des Europäischen Parlaments. Es wäre sicher wünschenswert, könnte auf einen Schlag mit dem Lissabonner Vertrag die Bedeutung des Europäischen Parlaments steigen. Aber seien wir ehrlich: Wie kann die Rolle des EU-Parlaments steigen, wenn in einem Land nach dem anderen auf die Listen zur EU-Wahl zweit- oder drittrangige Politiker aufgestellt werden? Nein, da nutzt auch die beste Verfassung oder der beste Vertrag nichts. Auf Menschen kommt es an. So lange die besseren Politiker in den Landesparlamenten und nicht im EU-Parlament sitzen, so lange wird die europäische Legislative keine größere Rolle spielen. Verständlich, dass die Politiker lieber in eigenen Ländern bleiben: Hier ist die Macht größer, der Machtkampf viel aufregender. Auf der europäischen Ebene kann es aus der Natur der Sache keinen so mörderischen Wahlkampf geben, den die Politiker so lieben...


Welche Rolle spielt die vierte Gewalt im Bezug auf das Europäische Parlament? Die Arbeit der Parlamente der Mitgliedsländer wird von den Medien begleitet und dabei die Politik und die öffentliche Meinung beeinflusst. Auf der europäischen Ebene haben wir im besten Fall Berichterstattung aus Brüssel und Straßburg. Sie ist notwendig, aber es geht ja in erster Reihe nicht um Berichterstattung. Was Europa braucht, ist eine bewusste Öffentlichkeit. Dieser muss zur Geburt verholfen werden. Das ist die Aufgabe der Journalisten.


Der Lissabonner Vertrag hätte den großen Staaten mehr Gewicht verliehen. Das Streben danach ist wirtschaftlich und historisch begründet, denn diese haben nicht nur mehr Bevölkerung, sie haben auch stärkere Wirtschaft und größere Finanzkraft und damit das Selbstbewusstsein, den Ton in der Union angeben zu wollen. Sie gehören auch der Union vom Anfang an.


Ohne diesen Vertrag bleibt das liberum veto aller einzelnen Länder vorerst bestehen. Es kann sich als Bremsklotz erweisen, es kann aber bewirken, dass nur die Initiativen, die für alle akzeptabel sind, zur Abstimmung gebracht werden. Unpopuläre Regelungen, die von den "mächtigeren" Ländern mit den neuen Mehrheiten zu erreichen wären, hätten das Projekt Europa auch nicht unbedingt nach vorne gebracht. Es wäre Stoff für Konflikte.


Ohne ein entwickeltes Bewusstsein der Europäer für die gemeinsamen Belange, ohne die europäische Öffentlichkeit wird es wirklich kaum möglich sein, dass sich die Vertreter der 27 Staaten auf unpopuläre aber wichtige Initiativen einigen. Deshalb: Mehr Eliten für Europa und mehr Bewusstsein für die Rolle der Union für ihre Bürger und nach außen in der globalisierten Welt. Europa muss besser kommuniziert werden.


Genauso wichtig wie das gesteigerte Bewusstsein für die Zukunftsaufgaben des vereinigten Kontinents ist die gute Kenntnis und das Verständnis für die gemeinsamen Bande, die alle europäischen Völker verbinden. Die Differenzen, die sich unter den Mächten auf dem Kontinent in den letzten 1200 Jahren entwickelt haben, sind heute vergessen. Was aber Europa vom Anfang an eint, das ist Christentum als Impuls - nicht die Kirchen als Institutionen. Christentum wurde scheinbar durch die Aufklärung überwunden. Der übermäßige Einfluss der Kirchen ist tatsächlich Vergangenheit. Aber das ist kein Thema, was uns hier interessiert. Die wichtigste Idee der Aufklärung, die Freiheit des Einzelnen, sie baut sich nahtlos auf die alt- und neutestamentarische Tradition, in der  allerdings die Betonung auf individueller Verantwortung liegt.


Christentum, gewachsen aus der jüdisch-griechisch-römischen Ideenwelt und Tradition ist in seiner Natur für andere Religionen und Weltanschauungen nicht ausschliessend. Hier in Europa war deshalb  schon immer und soll weiterhin Platz für Menschen aus anderen Kulturen und Kulturkreisen sein. Auch diese Menschen, obwohl sie nicht mit leeren Händen kommen, sondern ihre Traditionen und Religionen mitbringen, brauchen eine starke europäische Identität. Identität, die auf der Tradition aufgebaut ist, und gerade dadurch in die Zukunft weist. Nur so kann es gelingen, dass eine neue Qualität auf dem Kontinent entstehen wird.


Eine eigene, in dem Fall die christliche Tradition leugnendes Europa erweckt in den Ankommenden kein Respekt und verhindert neue Entwicklungen. Entropie ist stärker als ordnende Kraft, Chaos und Destruktion beherrschen zeitweise das Geschehen in großen Städten und die Ruhe, die danach kommt, kündigt gleichsam neue Konflikte an.


Es gab schon auf dem europäischen Kontinent Staatsgebilde, die als musterhaft für das vereinigte Europa angesehen werden dürfen, wenn auch diese mit Fehlern behaftet waren. Hier soll vor allem die Österreichische Monarchie erwähnt werden und die polnisch-litauische Union; beide hatten mehrere Jahrhunderte existiert. Beide waren Vielvölkerstaaten, beide hatten die Kulturentwicklung der in ihnen lebenden Völker ermöglicht und begünstigt. In einem Satz möchte ich nur die beispielhafte Autonomie der Länder und Völker in der k. k. Monarchie nennen und die Freiheiten, die die osteuropäischen Juden genossen hatten sowohl in der Adelsrepublik als auch in der Habsburger Monarchie. Sie hatten nicht nur ihre eigene Tradition ungehindert leben dürfen, sie hatten zwar infolge der russischen Pogrome aber eigentlich aus der Freiheit heraus die religiösen Strömungen des osteuropäischen Chassidismus des 18. Jahrhunderts, der heute weltweit verbreitet ist, hervorgebracht. Zugleich hatten die Juden in Galizien, Ungarn und Böhmen die deutschsprachige osteuropäische Kultur entstehen lassen. Diese allerdings ist unwiederbringlich zerstört worden...


In der Zukunft, auf lange Sicht, wird es nicht mehr möglich sein, die Grenzen Europas am Bug verlaufen zu lassen. Auch wenn Russland heute noch immer bei vielen Fragen konträr zu einzelnen europäischen Staaten, zu Europa oder zu der westlichen Welt überhaupt steht und handelt, wird es sich in Zukunft ändern müssen: Russland steht in christlicher Tradition und als solches hat mehr Gemeinsamkeiten mit Europa als mit China oder Indien, die immer größere Rolle in der globalisierten Welt spielen und spielen werden. Und Russland kann seine gewohnte Rolle als Weltmacht in der neuen Welt nicht allein erfüllen. Aber mit Europa, mit der Union zusammen – ja.


Es bleibt Europa nur zu wünschen, dass es in Zukunft die Kraft der Regionen und Völker stärkt und gemeinsam ein bedeutender Spieler im Konzert der alten und neuen Weltmächte wird. Es wird auch ohne Lissabonner Vertrag möglich sein; es sind auch noch ganz andere Voraussetzungen notwendig.                               


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